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Dr. Dirk Hesse ist seit 2009 Ärztlicher Direktor im Maßregelvollzug Moringen. Foto: Christoph Dierking
Maßregelvollzug Moringen„Viele müssen erstmal leben lernen“ – Ärztlicher Direktor fordert mehr Akzeptanz für Psychiatrie
Der Maßregelvollzug therapiert Menschen, die psychisch krank sind und eine Straftat begangen haben. Wie das funktioniert, schildert ein Mediziner im Interview.
Patienten statt Gefangene, Pflegekräfte statt Justizbeamte, Patientenzimmer statt Zellen: Der Maßregelvollzug ist eine Klinik, kein Gefängnis, auch wenn es durchaus Parallelen gibt. Raus darf nämlich niemand. Wer hier untergebracht ist, hat schwere Straftaten begangen, andere Menschen verletzt, in manchen Fällen auch getötet. Aber das eben im Zustand verminderter Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit. Ob jemand in den Maßregelvollzug kommt, entscheiden Gerichte in sogenannten Sicherungsverfahren, in denen es nicht um ein Strafmaß geht. Nach § 63 Strafgesetzbuch können sie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen, nach § 64 die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Die Ziele: die Gesellschaft vor psychisch kranken Täterinnen und Tätern zu schützen – und die Betroffenen zu therapieren, im Idealfall zu resozialisieren.
So ist es auch im Maßregelvollzugszentrum Moringen, das sich nördlich von Göttingen in Niedersachsen befindet. Dr. Dirk Hesse arbeitet seit der Jahrtausendwende im Haus, seit 2009 als Ärztlicher Direktor. #staatklar hat mit ihm über die Therapie, Sicherheitsvorkehrungen und die öffentliche Wahrnehmung des Maßregelvollzugs gesprochen.
#staatklar: Herr Dr. Hesse, in Moringen umringt eine riesige Hecke das Klinikgelände, das eher an eine Parkanlage erinnert; es gibt sogar einen Teich mit einer idyllischen Brücke. An einem Ort, an dem Straftäterinnen und Straftäter untergebracht sind, erwarten die meisten wohl eher hohe Mauern und Stacheldraht. Warum verzichten Sie darauf?
Dr. Dirk Hesse: Nun, es gibt in der Tat auch forensische Kliniken, die ganz anders aussehen, das ist richtig. Unsere Haltung ist: Wir wollen den Patientinnen und Patienten klar vor Augen führen, warum es sich lohnt, straffrei zu leben. Es reicht nicht, von einem Paradies zu predigen, in das sie irgendwann hereinkommen. Nein, es muss schon in der Therapie erfahrbar sein. Das menschliche Gehirn arbeitet in Bildern. Und positive Bilder haben einen positiven Effekt.
Nicht zuletzt wirken sich die baulichen Maßnahmen auch positiv auf das Arbeitsumfeld der Beschäftigten aus. Wer will schon den ganzen Tag in einer Betonwüste arbeiten und auf Gitterstäbe schauen?
Wie passt das mit der Sicherheit zusammen?
Ein grünes Therapieumfeld bedeutet nicht weniger Sicherheit. Unsere Vorkehrungen sind ebenso vorhanden, nur subtiler. Wir haben keine Gitter vor den Fenstern, dafür ausbruchssicheres Glas. Da ist selbst ein Vorschlaghammer nutzlos. Hohe Gebäude, über die man nicht einfach herüberklettern kann, und die besagte Hecke, in der sich Stacheldraht befindet, grenzen das Gelände ab.
Wer auf Grundlage von § 64 StGB in der Klinik ist, hat ein Suchtproblem. Unter welchen Krankheiten leiden die Menschen, die auf Grundlage von § 63 in der Klinik sind, also wegen einer psychischen Störung?
Von den Patientinnen und Patienten geht eine gewisse Gefahr aus, es handelt sich um schwere Störungen, die über längere Zeiträume andauern. Dazu gehört die Schizophrenie. Die Betroffenen hören Stimmen, die ihnen Befehle geben, etwas zu tun.
Weiterhin haben wir es mit intelligenzgeminderten Menschen zu tun oder solchen, die beispielsweise durch eine Hirnverletzung oder einen Hirntumor kognitiv eingeschränkt sind. Sie können sich nicht sozial adäquat verhalten. Und dann gibt es noch die Gruppe, die unter Persönlichkeitsstörungen leidet. Dabei handelt es sich um tiefgreifende Störungen, deren Ursachen meist in der Kindheit liegen.
Was haben die Betroffenen in ihrer Kindheit erlebt?
Zunächst ist mir wichtig: Nach meiner Wahrnehmung wird eine schwierige Kindheit mitunter als eine Art Ausrede oder Rechtfertigungsgrund dafür angesehen, wenn Menschen straffällig werden. Aber de facto liegt hier in sehr vielen Fällen die Ursache.
Viele, die wir hier in der Klinik behandeln, haben ein sehr problematisches Elternhaus. Sie haben Gewalterfahrungen gemacht, oft auch sexuelle Gewalt erlebt. Letzteres betrifft nicht ausschließlich junge Frauen, sondern auch Männer, die allerdings weniger darüber sprechen, weil das Thema für sie noch viel schambesetzter ist als für Frauen. Aber wir wissen, dass es so ist.
Bereits im Kindergarten und in der Schule fallen die Betroffenen auf, sie können sich nicht sozial anpassen. Sie fallen durchs Raster, nehmen Drogen, werden kriminell, oft folgen fürchterliche Heimkarrieren. Doch Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel: Wir behandeln auch Menschen aus wohlhabenden, bürgerlichen Familien. In allen Fällen hat die Förderung durch Eltern und staatlichen Strukturen versagt, aus welchen Gründen auch immer.
Der Mensch braucht einen Grund, um morgens aufzustehen. Sonst ist der Tag lang und langweilig.
Dr. Dirk Hesse
Wie beginnt die Therapie, wenn die Patientinnen und Patienten in der Klinik ankommen?
Los geht es auf der Aufnahmestation. Dort steht, auch wenn bereits Gutachten vorliegen, noch einmal die Diagnostik im Vordergrund. Wir schauen, welche Schwierigkeiten eine Person hat und welche Ressourcen sie mitbringt. Gegebenenfalls unterstützen wir medikamentös.
Ebenfalls im Fokus: mögliche Risiken. Wer stark alkoholisiert eine Straftat begangen hat, stellt eine überschaubare Gefahr dar, weil der Alkohol im Maßregelvollzug wegfällt. Anders verhält es sich beim Psychotiker, dem Stimmen befehlen, andere Menschen zu töten, um die Welt zu retten.
Dann beginnt die Beziehungsarbeit. Wir können den Patientinnen und Patienten nur helfen, wenn wir ein gutes Verhältnis aufbauen, sonst gehen sie in den Widerstand. Deshalb setzen wir bei den konfliktfreien Bereichen an und arbeiten uns bis zum Delikt vor, das wir im Übrigen als Symptom der Erkrankung verstehen. Das Ziel: Die Betroffenen sollen nachvollziehen, was zur Straftat geführt hat, und Warnzeichen erkennen. Bei Schizophrenen sind das zum Beispiel Schlafstörungen, bei Suchtkranken Langeweile. Wer Warnzeichen erkennt, soll am Ende der Behandlung in der Lage sein, selbst gegenzusteuern und Verantwortung zu übernehmen.
Was sind die nächsten Schritte?
Das hängt von der Diagnose ab. Manche Patientinnen und Patienten integrieren wir schon recht früh in die Ergotherapie, wo zum Beispiel mit Holz gearbeitet wird. Es geht darum, Ausdauer und Konzentration zu schulen, sichtbare Ergebnisse und Erfolge zu schaffen.
Grundsätzlich gilt: Viele müssen erstmal leben lernen. Körperhygiene, Sauberkeit und eine Tagesstruktur sind keine Selbstverständlichkeit. Der Mensch braucht einen Grund, um morgens aufzustehen. Sonst ist der Tag lang und langweilig.
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Wir haben Patienten, die im Arbeitsleben hervorragend zurechtkommen, aber an der Freizeitplanung scheitern – das betrifft oft Suchtkranke, die nach der Arbeit hinter dem Computer versacken, und dabei nicht bloß Chips, sondern vor allem Alkohol und Drogen konsumieren. Und ich kann mich an einen jungen Mann erinnern, der quasi direkt hinter dem Deich aufgewachsen ist, aber noch nie das Meer gesehen hatte. Das sagt natürlich einiges über das Elternhaus aus. Wir vermitteln den Leuten, wie sie ihre Freizeit gestalten können, und ihrem Leben eine Struktur geben.
Wie funktioniert das in der Praxis?
Na, vor allem durch Übung! Wir schaffen Gemeinschaftserlebnisse, machen Spielenachmittage, gehen zusammen im Supermarkt einkaufen oder wandern in der Natur. Es gibt Patientinnen und Patienten, die wissen nicht, dass man sich an Weihnachten oder zum Geburtstag etwas schenkt. Sie haben nie etwas bekommen. Das holen wir nach.
Und was die täglichen Aufgaben betrifft, verlangen wir immer mehr: Wäsche waschen, putzen, therapeutisches Kochen, all das steht auf dem Programm und mündet schließlich in die Selbstversorgung. Wer so weit ist, bekommt Geld, das dem Sozialhilfesatz entspricht, und muss davon Frühstück kaufen, Abendessen kochen, kurzum: das Leben bestreiten.
Im Supermarkt einkaufen? Ausflüge in der Natur? Der eine oder andere findet das möglicherweise befremdlich und sorgt sich um die Sicherheit. Was entgegnen Sie?
Das Klinikpersonal beaufsichtigt den Prozess, dokumentiert Fortschritte und schreitet ein, wenn etwas nicht funktioniert. Und es ist ja nicht so, dass wir von null auf hundert gehen. Lockerungen beginnen kleinstufig, es wird sehr langsam gesteigert. Die Leute müssen sich erproben, an Absprachen halten und bewähren. Wer das nicht kann, wird zurückgestuft.
Davon abgesehen: Eine lebenslange Unterbringung ist in Deutschland nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Früher oder später haben die meisten wieder ein Recht auf Freiheit. Deshalb glaube ich, dass der Maßregelvollzug eine sehr gute Investition ist. Bei uns bekommen die Menschen eine Behandlung, die sie im Idealfall auf ein straffreies Leben vorbereitet.
Im Bundesdurchschnitt werden Menschen aus dem Paragraf-63-Bereich etwa nach sechs Jahren wieder entlassen. Wie sieht ihr Leben jenseits des Klinikgeländes aus?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche wohnen in der eigenen Wohnung, kommen gut zurecht, gehen arbeiten und haben die Probleme hinter sich gelassen. Andere leben in geschlossenen Wohnheimen mit intensiver Betreuung. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es diverse Formen: Wohngemeinschaften, betreute Wohngemeinschaften sowie Unterstützung durch einen ambulanten psychiatrischen Dienst, Bewährungshilfe oder gesetzliche Betreuung.
Abschließend, ganz offen gefragt: Wenn Sie in Hinblick auf den Maßregelvollzug etwas ändern könnten – was wäre Ihr Wunsch?
Wenn man die Statistik betrachtet, ist ein Prozent der Bevölkerung pauschal gefährdet, im Laufe des Lebens eine schwere psychische Störung zu bekommen. Mit anderen Worten: gefährdet, im Maßregelvollzug zu landen. Wir haben hier immer wieder Menschen, die vor ihrem Aufenthalt ein normales Leben geführt haben. Es kann jeden erwischen. Aus dem Bekanntenkreis, aus der Familie, einen selbst.
Ich würde mir mehr gesellschaftliche Akzeptanz für alle im Maßregelvollzug wünschen, trotz aller Skepsis und Sicherheitsbedenken. Es handelt sich um Menschen, die ebenfalls ihre Bedürfnisse haben und ihr Leben aus verschiedenen Gründen nicht in den Griff bekommen. Deshalb brauchen wir eine Entdämonisierung von Psychiatrie und Forensik.
Interview: Christoph Dierking