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Das Kinder- und Jugendtelefon ist in ganz Deutschland unter 116 111 erreichbar, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr. Der Anruf ist kostenfrei, auch über das Handy. Foto: Colourbox
EhrenamtMobbing, Streit, Suizidgedanken – so hilft die Nummer gegen Kummer
Junge Menschen nutzen das Kinder- und Jugendtelefon aus ganz unterschiedlichen Gründen. Doch seit der Pandemie dominiert ein besorgniserregender Trend die Statistik.
Prompt klingelt es. Eigentlich hospitiert David noch, aber der erfahrene Ehrenamtliche an seiner Seite meint, er sei bestens vorbereitet, um selbst ans Telefon zu gehen. Der 20-Jährige ist etwas nervös, aber gespannt auf die Geschichte, die er gleich hören wird. In den vergangenen sechs Monaten hat er Workshops besucht und vielen Beratungsgesprächen gelauscht. Er erinnert sich an das Gelernte. Unter anderem daran, dass die meisten Menschen intuitiv vieles richtigmachen, wenn sie anderen zur Seite stehen – eben menschlich handeln.
Dann greift er zum Hörer. Am anderen Ende der Leitung ein Mädchen, das unter Schulstress leidet. David kann ihr helfen, schafft es, sie mit seiner fröhlichen Art aufzumuntern und Lösungen aufzuzeigen. Nach dem Gespräch sagt er zu seinem Ausbilder: „Ich könnte direkt weitermachen!“ Der erwidert: „Okay, dann übernimmst du jetzt allein die letzte halbe Stunde!“ Schon hat der Student der Wirtschaftsinformatik seinen ersten eigenen Dienst.
David engagiert sich beim Kinder- und Jugendtelefon Berlin, ein Projekt in Trägerschaft des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Mitglied im Dachverband Nummer gegen Kummer, wie alle Kinder- und Jugendtelefone in Deutschland. Was genau dem Mädchen in der Schule widerfahren ist, verrät er nicht. Denn Anonymität steht bei der Beratung an erster Stelle. Niemand soll seine eigene Geschichte im Internet lesen, das wäre ein Vertrauensbruch. Auch die vollen Namen der Ehrenamtlichen sollen vertraulich bleiben. Die Nummer gegen Kummer hat bundesweit 77 Standorte und hilft bei Problemen, die junge Menschen umtreiben: bei Streit in der Familie, Mobbing, Liebeskummer, aber auch bei psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen und Essstörungen. Eine Mail- und Chatberatung gehört ebenfalls zum Angebot.
Pandemie hat vieles verändert
Hilfe, die gefragt ist – die aktuelle Trendstudie Jugend in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass die junge Generation pessimistischer denn je in die Zukunft blickt. Das entspricht auch Davids Wahrnehmung. „Die Pandemie hat etwas verändert, sie war eine Zäsur“, sagt der Student. „Ich kenne viele, die eine Therapie machen, weil es ihnen nicht gut geht.“
Und auch die Verantwortlichen hinter dem Kinder- und Jugendtelefon in Berlin konstatieren: Vor der Pandemie ging es in den Beratungsgesprächen meistens um Liebe, Partnerschaft und Trennung – dieser Themenkomplex führte die Statistik an. Nun stehen psychosoziale Themen und Gesundheit an der Spitze, in der bundesweiten Statistik mit 40 Prozent. Dazu zählen unter anderem psychische Probleme, Einsamkeit und Ängste. „Unsere Erfahrungen decken sich mit dem, was die Trendstudie festgestellt hat“, heißt es.
Wer Probleme in Worte fasst, setzt sich mit ihnen auseinander und verarbeitet sie.
Cathrin Clift, Kinder- und Jugendtelefon Berlin
Die Verantwortlichen hinter dem Kinder- und Jugendtelefon in Berlin, das sind Sabine Marx und Cathrin Clift. Als Projektkoordinatorinnen planen die beiden die Einsätze der Ehrenamtlichen, bilden sie aus und stehen ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Die Ursache dafür, dass psychosoziale Themen stärker im Fokus stehen, sieht Sabine Marx unter anderem in den Krisen der Gegenwart. „Die Klimakrise spielt eine Rolle, damit gehen diffuse und konkrete Ängste einher“, berichtet sie. „Und wir nehmen wahr, dass die Pandemie Spuren hinterlassen hat, insbesondere bei den Studierenden.“
Kinder haben Gespür für Krisen
Problematisch ist aus ihrer Sicht, dass Eltern und Lehrkräfte zum Teil die Entwicklungen in der Welt bewusst von den Kindern fernhalten, um sie zu schützen. Für die Projektkoordinatorin eine prägende Erfahrung: ein Viertklässler, der dieses Verhalten in einem Workshop offen kritisierte. „Die versuchen uns nichts zu sagen, aber wir kriegen es eh raus!“, das waren seine Worte.
Sabine Marx betont: „Kinder und Jugendliche leben nicht im luftleeren Raum, deshalb müssen wir sie begleiten, in den Dialog gehen, ein offenes Ohr für Fragen und Ängste haben“ – es sei ganz entscheidend, einen Raum zu öffnen, wo sich die Betroffenen artikulieren können.
„Die Telefonberatung bietet so einen Raum“, sagt Cathrin Clift. „Die Ratsuchenden machen die Erfahrung, dass auf der anderen Seite eine wertschätzende, empathische und zugewandte Person sitzt.“ Gemeinsam werde versucht, sich nebeneinander in dem Raum zu bewegen, auf Augenhöhe.
Es gehe nicht unbedingt darum, unmittelbar eine Lösung zu entwickeln, erklärt die studierte Psychologin. „Wer Probleme in Worte fasst, setzt sich mit ihnen auseinander und verarbeitet sie“ – die Telefonberatung biete einen Trainingsraum, um die Sprechfähigkeit herzustellen, eine Grundvoraussetzung für alle weiteren Schritte. Denselben Effekt habe auch das Aufschreiben von Problemen. „Das ist ein sehr kontrollierter Weg, weil man sich Zeit lassen und die Antwort abwarten kann.“
Allen, die lieber diesen Weg wählen möchten, steht die Mail- und Chatberatung auf vertraudich.online offen. Auch dieses Projekt ist in Trägerschaft der Diakonie. Häufig entsteht zwischen den Ratsuchenden und Ehrenamtlichen ein Dialog: Die erste Nachricht gleicht einem vorsichtigen Herantasten, in der zweiten folgt die Beschreibung des Problems, zu dem die Beratung dann Stellung bezieht. Es kommt vor, dass bereits der Schreibprozess so entlastend wirkt, dass sich die Betroffenen die Antwort gar nicht mehr abholen.
Warum Anonymität so wichtig ist
Soziale Medien sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken – das gilt insbesondere für die junge Generation. Deshalb ist vertraudich.online in Berlin seit Ende Mai auch auf Instagram und TikTok präsent. „Wir sind sehr froh, dass wir diesen Schritt endlich gehen konnten und auch dort ein Angebot machen“, sagt Sabine Marx. Vor allem, weil es auf den Plattformen Kräfte gibt, die Fakten verdrehen, menschenverachtende Inhalte streuen und Verschwörungserzählungen verbreiten.
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Eine direkte Beratung findet in den Sozialen Medien allerdings nicht statt. „Das würde unserem Anspruch auf Anonymität widersprechen“ – die Anonymität ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass sich junge Menschen überhaupt Hilfe suchen, unterstreicht Marx. „Wenn sie wissen, dass unter Umständen sofort das Jugendamt eingeschaltet oder die Eltern informiert werden, dann ist das für die allermeisten eine enorme Hemmschwelle.“
Doch es kann vorkommen, dass die Anonymität die Ehrenamtlichen in herausfordernde Situationen bringt. Etwa, wenn akute Gewalt oder Suizidgedanken im Raum stehen. Bei Notlagen fragen die Ehrenamtlichen gezielt nach, ob die Ratsuchenden ihre Anonymität preisgeben möchten. Sobald das geschehen ist, sind sie rechtlich verpflichtet, Hilfe zu schicken. „Man darf nicht vergessen, dass sich die Betroffenen ohne die Anonymität womöglich gar nicht erst gemeldet hätten“ – diesen Punkt heben die Projektkoordinatorinnen besonders hervor.
Scherzanrufe bieten Kontrast
Insgesamt sind solche Situationen, die für alle Beteiligten sehr belastend sein können, im Verhältnis selten. „Wir arbeiten die Geschehnisse im Nachgang auf, niemand wird mit dem Erlebten allein gelassen“, berichtet Cathrin Clift. „Da ist es als Kontrast angenehm, wenn man auch mal eine Partygemeinschaft in der Leitung hat, die aus Spaß Pizza bestellt“ – das kommt verhältnismäßig oft vor: 2023 resultierten aus 7.158 Anrufen beim Kinder- und Jugendtelefon Berlin 1.718 konkrete Beratungen. Bei den übrigen Anrufen handelte es sich um Test- und Scherzanrufe.
Die eigene Komfortzone verlassen, sich Herausforderungen stellen und sich mit Gefühlen auseinandersetzen: Mit dieser Motivation ist David ins Ehrenamt gestartet. Schon jetzt zieht er ein positives Fazit: „Wenn man anderen helfen möchte, muss man sich selbst gut kennen. Mir hat es extrem viel gebracht, mich in der Ausbildung mit meinen eigenen Prägungen und Wahrnehmungen zu beschäftigen.“
Was er allen mit auf den Weg gibt, die ebenfalls überlegen, sich zu engagieren? „Macht es!“ – der sechsmonatige Vorbereitungskurs, den er in Berlin absolviert hat, mag zunächst nach viel Aufwand klingen, lässt sich aber problemlos in den Alltag integrieren, sagt der Student. „Ein Ehrenamt gibt einem viel zurück und ich bin sehr gespannt auf alles, was da noch kommt.“
Zahlen und Fakten
Das Kinder- und Jugendtelefon ist in ganz Deutschland unter 116 111 erreichbar, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr. Der Anruf ist kostenfrei, auch über das Handy.
120.271 Mal – so oft haben die Ehrenamtlichen von der Nummer gegen Kummer bundesweit im Jahr 2023 Menschen beraten. Davon entfallen 87.950 Beratungen auf das Kinder- und Jugendtelefon. Diese Zahl zeigt: Trotz großer Verbreitung von Sozialen Medien greifen Kinder und Jugendliche noch zum Hörer. 12.928 Beratungen entfallen auf die Online-Beratung und 19.393 auf das Elterntelefon.
In knapp mehr als der Hälfte der Fälle (52,8 Prozent) haben Jungen die Beratung des Kinder- und Jugendtelefons in Anspruch genommen, geht aus der Statistik für 2023 hervor. Die meisten Kinder- und Jugendlichen, die anrufen, sind zwischen zehn und 20 Jahre alt. In etwas mehr als der Hälfte der Fälle haben die Ratsuchenden ihr Alter mitgeteilt, in den übrigen Fällen haben es die Ehrenamtlichen geschätzt, die das Gespräch führten.
Wie ist das Kinder- und Jugendtelefon organisiert? Bundesweit hat das Kinder- und Jugendtelefon 77 Standorte, die alle dem Dachverband Nummer gegen Kummer e. V. (NgK) mit Sitz in Wuppertal angehören. Jeder Standort hat einen eigenen Träger, meistens den Kinderschutzbund, unter anderem aber auch das Diakonische Werk. Manche Standorte bieten weitere Beratungsangebote: das Elterntelefon, eine Online-Beratung und das Projekt „Jugendliche beraten Jugendliche“, bei dem 16- bis 27-Jährige beim Kinder- und Jugendtelefon samstags von 14 bis 20 Uhr ihrer Generation zur Seite stehen.
Finanziert werden die Standorte teils über den Träger, die Beschäftigten vor Ort werben auch um weitere Unterstützung: In Berlin etwa beteiligt sich der Senat an den Kosten für das Kinder- und Jugendtelefon sowie das Elterntelefon.
Wie kann ich mich engagieren? Die Ausbildung der Ehrenamtlichen erfolgt bei den Standorten, die entsprechende Kurse organisieren. Beispiel: Das Kinder- und Jugendtelefon in Berlin richtet jährlich einen sechsmonatigen Kurs aus, der jeweils von Januar bis Juni stattfindet und 123 Stunden umfasst. Teil der Ausbildung ist in diesem Fall auch die Online-Beratung vertraudich.online
Eine Übersicht mit allen Standorten und Kontaktinformationen bietet der Dachverband NgK.
Text: Christoph Dierking