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Für Menschen mit Sehbehinderungen ist der Stock ein wichtiges Hilfsmittel (Symbolbild). Foto: Colourbox
SehbehinderungenAbsolutes No-Go: Ungefragt am Stock ziehen
Yvonne Hardrath ist Mutter, Lehrerin – und von Geburt an blind. Im Alltag erfährt sie große Hilfsbereitschaft. Doch bis zur uneingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist es noch ein weiter Weg.
„Du hast mich bestimmt an der Stimme erkannt.“
„Du findest den Weg, indem Du die Schritte zählst, oder?“
Mit solchen Vorurteilen ist Yvonne Hardrath hin und wieder konfrontiert. „Nein, ich merke mir nicht die Stimmen aller Menschen, mit denen ich zu tun habe“, betont sie. Und ihre Schritte zählt sie auch nicht. „Wenn ich mich darauf verlassen würde, käme ich ziemlich sicher nicht ans Ziel.“
Manchmal tuscheln Passant*innen hinter ihrem Rücken: „Guck mal, die Frau ist blind!“ Wenn ihr danach ist, dreht sie sich um und kommentiert selbstbewusst: „Sie wissen schon, dass ich Sie hören kann!“
All das sind Situationen, in denen Yvonne Hardrath zu spüren bekommt, dass Inklusion noch längst keine Selbstverständlichkeit ist. Hardrath lebt mit ihrer Familie – Mann und Tochter – nördlich von Berlin und arbeitet als Grundschullehrerin an einer Blindenschule. Dort unterrichtet sie Deutsch, Französisch und Musik. Mit #staatklar hat die 40-Jährige über ihren Alltag gesprochen, weil sie für die Probleme sehbehinderter Menschen sensibilisieren möchte.
Gleich zu Beginn des Gesprächs unterstreicht Hardrath: „Alles, was ich sage, beruht auf meiner persönlichen Wahrnehmung. Es gibt viele blinde Menschen, die Dinge möglicherweise anders erleben“ – denn „die eine“ Gemeinschaft von Blinden gibt es nicht. Im Gegenteil: „Die Szene ist total divers.“ Das werde oft vergessen, dieser Punkt ist ihr sehr wichtig.
Sehen prägt die Sprache
Hardrath ist von Geburt an blind. Nur wenn die Sonne ihr grell ins rechte Auge scheint, oder eine Taschenlampe, erkennt sie den Unterschied zwischen hell und dunkel. Ihr linkes Auge ist aus Glas. Dies ist selbst für jemanden, der Bescheid weiß, nicht zu erkennen.
Täglich muss sich die Frau in einer Welt zurechtfinden, die für Sehende gemacht ist. „Sehende“, so nennen Menschen mit Sehbehinderung Menschen ohne Sehbehinderung. Die Sprache verdeutlicht, wie sehr das Sehvermögen das Leben prägt. Wer sich verabschiedet, sagt „wir sehen uns“. Wer etwas zeigen möchte, sagt „schau mal“. Und wer eine Meinung vertritt, hat eine bestimmte Sichtweise.
Hardrath nutzt diese Redewendungen ebenfalls. Warum auch nicht? Es ist die Sprache, mit der sie aufgewachsen ist. Für sie ist es entscheidend, dass sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dass Barrieren zu den Sehenden verschwinden. Dass Menschen keine Berührungsängste mehr haben. „Bei manchen gehen direkt die Schotten runter, wenn ich sie anspreche“, sagt sie. „Das merkt man richtig.“
Umgekehrt gibt es aber auch diejenigen, die übereifrig sind und ihre Hilfe aufdrängen. „Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, kurz zu fragen. Denn ob ich Hilfe brauche, entscheide ich.“ Ein absolutes No-Go: ungefragt am Stock ziehen.
Ungeplantes verursacht Probleme
Organisation ist alles, Spontanität schwierig. „Ich muss sehr genau planen, wann ich aus dem Haus gehe, um pünktlich zu sein“, sagt die Lehrerin, die meistens mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule fährt. Denn es kann viel passieren, was Zeit kostet: Baustellen, die plötzlich den gewohnten Weg versperren. Menschen, die auf dem Bahnsteig auf den geriffelten Leitlinien stehen und die Orientierung erschweren. „Und neulich fuhr die Bahn nicht weiter, wegen einer Bombenentschärfung“, erzählt Hardrath. „Da konnte ich nicht einfach eine andere nehmen, weil ich die Wege nicht kannte.“ In solchen Situationen bleibt oft nur ein Taxi als Option – vorausgesetzt, jemand unterstützt beim Weg hinaus aus dem Bahnhof zum Taxistand. Die Alternative: warten, bis die Bahn wieder fährt.
Aber auch, wenn alles nach Plan läuft, gibt es Herausforderungen: „Es geht ja schon los, wenn ich in die Bahn einsteige – ich sehe nicht, wo noch ein freier Platz ist.“ Wenn es voll ist, bleibt Hardrath meistens im Türbereich stehen. Um einen Platz zu finden, müsste sie sich vortasten und die anderen Fahrgäste berühren, was den meisten wohl komisch vorkäme. „Sinnvoll ist natürlich immer, wenn mir jemand einen freien Platz zeigt.“
Mit der App die richtigen Einkäufe finden
Für den Supermarkt gibt es eine App fürs Smartphone, die Produkte scannen und Bezeichnungen ansagen kann – „aber wenn ich jedes Produkt scanne, bin ich nach drei Jahren noch nicht fertig“, erklärt Hardrath. Deshalb fragt sie in der Regel Angestellte, ob sie helfen können.
Computer und Smartphones haben mir ermöglicht, an einer Welt teilzuhaben, die ich vorher nicht kannte.
Yvonne Hardrath
Es gibt aber auch Situationen, in denen sie nicht um Hilfe fragen möchte. Neulich war sie mit ihrer fünfjährigen Tochter einkaufen. „Für Außenstehende ist das bestimmt lustig anzusehen, weil sie natürlich nur das einpackt, was ihr gefällt“, sagt Hardrath und schmunzelt. Doch einen Freischein bekommt die Tochter im Supermarkt keineswegs. Mithilfe der App kontrolliert die Mutter, ob wirklich nur das im Einkaufswagen landet, was auch auf dem Einkaufszettel steht. „Ein paar Süßigkeiten sind natürlich erlaubt.“
Hardrath ist es sehr wichtig, ihrer Tochter nicht das Gefühl zu geben, dass sie ihr ständig helfen muss. „Sie soll ihr eigenes Leben führen. Wenn sie mal nicht helfen möchte, ist das für mich vollkommen okay, ich fordere es nicht ein.“ Extrem wichtig sei allerdings: „Sie muss auf mich hören. Wenn ich auf dem Spielplatz sage, dass sie kommen soll, muss sie kommen, weil ich ihr nicht hinterherlaufen kann. Das macht sie auch immer.“
Digitalisierung ermöglicht Teilhabe
Wenn Yvonne Hardrath von der Digitalisierung spricht, schwingt in ihrer Stimme sofort Begeisterung mit: „Computer und Smartphones haben mir ermöglicht, an einer Welt teilzuhaben, die ich vorher nicht kannte“, sagt sie.
Über die Sozialen Medien kann sie sich mit anderen Menschen austauschen. Sich über eine Sprachbörse vernetzen und Französisch sprechen. E-Books über eine App laden und direkt vorlesen lassen. Sie kann die Arbeitsblätter für den Unterricht alleine vorbereiten und ausdrucken. „All das und vieles mehr wäre für mich früher undenkbar gewesen.“
Doch manchmal hapert es auch im Digitalen: Viele sehbehinderte Menschen nutzen einen Sprachassistenten, wenn sie mobil im Netz surfen. Dieser sagt an, wo sich Tasten befinden und welche Funktion sie haben. Manchmal ist allerdings die Funktion nicht benannt. „Das ist ziemlich ärgerlich“, berichtet Hardrath. Ist zum Beispiel die Sendefunktion nicht hinterlegt, sagt der Assistent einfach nur „Taste“ anstatt „Taste Senden“. „Das nützt mir nichts, damit kann ich nichts anfangen.“
Ebenfalls ärgerlich: Werbung, die so programmiert ist, dass sie sich nicht einfach wegklicken lässt. Hardrath: „Wenn das passiert, verlasse ich Websites und sage mir: Dann halt nicht.“
Frühes Sensibilisieren gefordert
Doch zurück in die analoge Welt: Hier gibt es Tonsignale an Ampeln, die nicht funktionieren. Achtlos abgestellte E-Scooter, die auf Bürgersteigen zu Stolperfallen werden. E-Autos, die kaum zu hören sind. Und Baustellenlärm, der es wiederum unmöglich macht, sich mit dem Gehör zu orientieren. All das sind Probleme, mit denen sehbehinderte Menschen täglich kämpfen.
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Was sich Yvonne Hardrath wünscht? „Ich halte es für wichtig, früh für das Thema zu sensibilisieren, am besten schon im Kindergarten“, betont sie. „Denn nur, wenn der Umgang mit Sehbehinderungen für Kinder selbstverständlich ist, wird er es auch für Erwachsene.“
Außerdem wünscht sich Hardrath, als ganz normaler Mensch wahrgenommen zu werden. Als Mutter, Ehefrau, Lehrerin. Als eine Frau, die Hobbys, Familienleben und Freundschaften pflegt. „Die Medien neigen dazu, nur Extreme darzustellen“, sagt sie. Auf der einen Seite den Blinden, der ohne fremde Hilfe gar nichts kann. Und auf der anderen Seite den Super-Blinden, den Fledermausmann, der selbst die Regenwürmer husten hört. „Beides trifft auf die wenigsten zu. Die allermeisten sind eben ganz normale Menschen.“
Text: Christoph Dierking